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IMK-Check zeigt erfolgreiche Stabilisierungspolitik in der Corona- und Inflationskrise, aber Abstriche bei Nachhaltigkeit

27.10.2023  — Online-Redaktion Verlag Dashöfer.  Quelle: Hans Böckler Stiftung.

Die Corona- und die Ukrainekrise haben in Deutschland auf dem Arbeitsmarkt und bei den Einkommen der Bevölkerung geringere Schäden angerichtet als angesichts der starken wirtschaftlichen Schocks zu erwarten gewesen wäre.

Die große Koalition und die „Ampel“ haben in den vergangenen Krisenjahren mit hohem Aufwand, darunter weit verbreitete Kurzarbeit, Unterstützungszahlungen und Energiepreisbremsen, Schlimmeres abgewendet. Dieser Stabilisierungserfolg der Wirtschaftspolitik hat allerdings nicht verhindern können, dass Deutschland zwischen 2020 und 2022 bei zentralen Kenngrößen wirtschaftlicher, staatlicher, sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit relativ schwach abschneidet. Mit Blick auf die Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit und der Staatsfinanzen haben die dafür nötigen hohen Ausgaben sogar zu einer Verschlechterung gegenüber den Jahren davor geführt. Das ergibt der neue Nachhaltigkeits-Check im Auftrag des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung anhand von 14 Indikatoren, wobei für 13 Daten aus dem Untersuchungszeitraum vorliegen. Lediglich bei zwei davon geben die Forschenden im Durchschnitt der drei Jahre uneingeschränkt grünes Licht.* Allerdings liegen insbesondere bei der sozialen Nachhaltigkeit noch nicht alle Daten für das Jahr 2022 vor. Und: In der außergewöhnlichen Situation eng aufeinanderfolgender Großkrisen sei es wenig sinnvoll, den Nachhaltigkeitscheck „mechanisch“ vorzunehmen, schreiben die Forschenden. Denn sowohl die Corona-Pandemie als auch die Explosion der Preise nach dem russischen Überfall auf die Ukraine sind äußere Ereignisse, auf die die deutsche Wirtschaftspolitik nur wenig Einfluss hatte, betonen Prof. Dr. Fabian Lindner und Prof. Dr. Anita Tiefensee, die die Untersuchung für das IMK erstellt haben.

Die Einordnung der Forschenden fällt dementsprechend erheblich positiver aus als es die geringe Quote erreichter Ziele zunächst erwarten lässt: Alles in allem ergebe sich „ein durchwachsenes Bild zur Entwicklung der Nachhaltigkeit in Deutschland“, so Lindner und Tiefensee. „Die Politik hat insgesamt gut auf die Krisen reagiert. Sie hat Einkommen gestützt, was dazu geführt hat, dass sowohl der wirtschaftliche Wohlstand als auch die soziale Nachhaltigkeit nicht noch stärker gesunken sind als es in der Krise ohnehin der Fall war. Die Vernachlässigung einer strengen Einhaltung der Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit war dafür der Preis“, fassen der Ökonomieprofessor von der Hochschule für Technik und Wirtschaft (HTW) Berlin und die Professorin an der Hochschule des Bundes wesentliche Trends zusammen. Und weiter: „Eine Überschuldung des Staates ist deswegen zwar nicht abzusehen, aber die niedrigen Investitionen belasten den Standort. Die Stützungsmaßnahmen der Bundesregierung und die Erhöhung vieler Sozialleistungen haben die Folgen der Krisen für Armut und Ungleichheit insgesamt begrenzt. Die Inflation hat aber zu realen Einkommensverlusten geführt. Die Treibhausgasemissionen und der Energieverbrauch sind gefallen. Das dürfte allerdings ein temporärer Effekt sein, weil es auf die geringe Produktion in der Krise zurückzuführen ist.“

Der Nachhaltigkeits-Check folgt dem Modell des „Neuen Magischen Vierecks“, das die etablierten Zieldimensionen der Wirtschaftspolitik für das 21. Jahrhundert aktualisiert. Traditionell geht es um hohe Beschäftigung, stabile Preise, außenwirtschaftliches Gleichgewicht sowie stetiges und angemessenes Wirtschaftswachstum. In Zeiten von Klimawandel und lange steigender Einkommensungleichheit reicht eine Ausrichtung allein auf Wirtschaftswachstum nicht mehr aus, so der modernisierte Ansatz. Das Konzept hat der Wissenschaftliche Direktor des IMK, Prof. Dr. Sebastian Dullien, mitentwickelt. Es greift mit verschiedenen Zielwerten Anforderungen auf, auf die sich die Bundesregierung etwa im Rahmen der Europa-2020-Strategie sowie der Erneuerbare-Energien-Richtlinien der Europäischen Union selbst festgelegt hat und erweitert sie um weitere wichtige Nachhaltigkeitsziele. Seit 2012 wurde der Check mehrmals durchgeführt.

Lindner und Tiefensee haben anhand aktueller Daten aus zahlreichen offiziellen Quellen überprüft, inwieweit Deutschland in den vergangenen drei Jahren mehr materiellen Wohlstand und ökonomische Stabilität, Nachhaltigkeit der Staatstätigkeit und Finanzen sowie soziale und ökologische Nachhaltigkeit erreicht hat. Dabei haben sie insgesamt 13 verschiedene Indikatoren betrachtet.

Wachstum, Beschäftigung, Außenhandel: Dreimal „rot“, einmal „grün“

Die Krisen der jüngsten Vergangenheit haben tiefe Spuren bei den volkswirtschaftlichen Kennzahlen hinterlassen. Das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf lag der Studie zufolge 2022 fast auf dem gleichen Niveau wie 2019. Damit ergibt sich praktisch ein Nullwachstum, weit unter dem Zielwert von 1,25 Prozent Zunahme im Jahresdurchschnitt. Der Konsum legte etwas stärker zu, was angesichts von drastischen Einbrüchen in der Corona-Krise und der Energiepreisexplosion bereit ein positives Zeichen ist. Mit 0,3 Prozent im Mittel der Jahre 2020 bis 2022 wurde das Ziel von durchschnittlich 1,25 Prozent aber ebenfalls klar verfehlt.

Deutlicher sind die Erfolge der Anti-Krisen-Politik am Arbeitsmarkt abzulesen: Die Quote der Erwerbstätigen lag im gesamten Analysezeitraum oberhalb des Zielwertes von 77 Prozent. 2022 übertraf sie mit 80,7 Prozent sogar den Vorkrisenstand. Die „Stabilisierung des Arbeitsmarktes trotz Rekordrezession“ bezeichnen Lindner und Tiefensee als „gewaltigen beschäftigungspolitischen Erfolg“. Denn: „Ein Anstieg der Arbeitslosigkeit wäre unter den Bedingungen der Corona- und der aktuellen Energiepreiskrise sozialpolitisch katastrophal gewesen.“

Das vierte Kriterium in diesem Teil des Checks ist der Leistungsbilanzsaldo. Über viele Jahre hat Deutschland im Außenhandel gewaltige Überschüsse verzeichnet. Diese überschritten seit 2012 durchgängig das – von der EU-Kommission mit Blick auf außenwirtschaftliche Stabilität recht großzügig gezogene – Limit von sechs Prozent des deutschen BIPs. Das war sogar in den Corona-Jahren 2020 und 2021 der Fall. 2022 sank der Überschuss dann drastisch auf 4,3 Prozent des BIP. Grund waren die stark verteuerten Energieimporte. Aus Sicht der Verbraucher*innen in Deutschland bedeutete die auf dem Papier „bessere Balance“ im Außenhandel daher keinen Wohlstandszuwachs, sondern einen Wohlstandsverlust. Und gerechnet auf den Dreijahreszeitraum blieb der Außenhandelsüberschuss im Durchschnitt trotzdem oberhalb von sechs Prozent.

Budget und Investitionen: Kein Kriterium erfüllt

Um die Nachhaltigkeit von Staatstätigkeit und -finanzen zu überprüfen, betrachtet der IMK-Check drei zentrale Größen: Ob der Staatshaushalt strukturell im Plus oder im Minus ist, die staatliche Gesamtverschuldung gemessen am BIP sowie die öffentlichen Nettoinvestitionen. Während der 2010er Jahre wiesen die Budgets meist Überschüsse und die Schuldenstandsquote eine sinkende Tendenz auf. Beim letzten Check gaben den Forschenden vor allem die Investitionen Anlass zur Sorge, die trotz leichter Steigerungen viel zu niedrig ausfielen. Wenig überraschend ist, dass sich zwischen 2020 und 2022 die Situation weiter eingetrübt hat: In den drei Krisenjahren ist kein Ziel erreicht worden.

Die Stützungsmaßnahmen des Staates sowohl gegen die Folgen der Corona- als auch der Energiepreiskrise haben zu strukturellen Defiziten und 2020 und 2021 auch zu Steigerungen der Schuldenstandquote geführt. Die stark gestiegenen Preise haben wiederum die öffentlichen Investitionen belastet. Diese hatten sich 2020 noch recht positiv entwickelt, sind im Jahr 2022 aber stark eingebrochen. „Die Verschlechterung der Defizite und der Schuldenstandquote waren angesichts der großen Krisen notwendig, um Wirtschaft und Gesellschaft zu stützen. Die niedrigen Investitionen führen aber langfristig zu einer Belastung, da weniger öffentliche Güter und Dienstleistungen bereitgestellt werden können als notwendig wären. Dazu gehört nicht zuletzt die Umstellung der öffentlichen Infrastruktur auf Klimaneutralität“, warnen Lindner und Tiefensee.

Armut, Ungleichheit, Bildung: Daten für 2022 fehlen noch, bis dahin schwaches Bild

Auch bei der sozialen Nachhaltigkeit kommen die Forschenden zu eher ernüchternden Ergebnissen – auch wenn für die verwendeten Indikatoren bislang nur Werte bis 2021 vorliegen und diese nur eingeschränkt mit früheren Jahren vergleichbar sind. Der Anteil der Armutsgefährdeten an der Gesamtbevölkerung übertraf in beiden Jahren deutlich den Zielwert von 12 Prozent. 2021 lag er bei gut 16 Prozent.

Die Ungleichheit der Haushaltseinkommen, gemessen daran, wie viel mehr das nach Einkommen „reichste“ gegenüber dem „ärmsten“ Fünftel der Haushalte, hat sich in den ersten beiden Corona-Jahren uneinheitlich entwickelt. Klar ist: Beide Werte liegen deutlich über dem Zielwert von 4 (also das Vierfache).

Stark negativ war die vorläufige Entwicklung beim Bildungserfolg, gemessen an der Quote der Personen, die höchstens die Haupt- oder Realschule abschließen und keine weitere Ausbildung machen. Der Anteil lag 2020 mit 10,1 Prozent nahe bei der anvisierten Grenze von 10 Prozent, stieg 2021 aber auf 11,6 Prozent. Zum problematischen Trend könnten die hohen Belastungen während der Pandemie beigetragen haben, schätzen Lindner und Tiefensee. Hier müsse die Politik verstärkt gegensteuern. Eine inklusivere Bildungspolitik sei für die gesellschaftliche Chancengleichheit ebenso wichtig wie für das Fachkräftepotenzial.

Ökologische Nachhaltigkeit: Vier Ziele, eines erreicht

Anders als in den Jahren zuvor hat Deutschland im Bereich der ökologischen Nachhaltigkeit von 2020 bis 2022 immerhin ein Ziel erreicht, und zwar ein zentrales, schreiben die Forschenden: Die Treibhausgasemissionen sind zwischen 1990 und 2022 um 40,4 Prozent gesunken. Auch das konkret festgeschriebene Ziel, bis 2020 eine Reduzierung um 40 Prozent zu erreichen, wurde erfüllt. Allerdings lag das vor allem an Sonderfaktoren in der Krise: 2020 ließ die Corona-Rezession die Energienachfrage stark sinken, 2022 dämpften die explodierenden Energiepreise und die Angst vor einer Gasmangellage den Verbrauch.

Der Anteil der Erneuerbaren Energien an der Energieerzeugung, ein zweites Kriterium im Check, wächst zwar, aber besonders 2022 wurde durch den Rückgang des Einsatzes relativ emissionsarmen Erdgases und der starken Reduzierung der Kernenergie zugunsten von Kohle und Mineralöl der Energiemix insgesamt kohlenstoffreicher. So ist das Ziel zum Anteil der Erneuerbaren an der Endenergie 2020 erreicht worden. Der Zielpfad, der sich aus den neuen europäischen Zielen zum Ausbau der Erneuerbaren Energien ergibt, wurde allerdings bisher verfehlt. Unter dem Strich bleibe trotz unübersehbarer Fortschritte also weiterer großer Handlungsbedarf, so Lindner und Tiefensee.

Bei der Biodiversität, die ebenfalls als Indikator im „Neuen Magischen Viereck“ erfasst wird, liegen für den Untersuchungszeitraum keine neuen Daten vor, daher wird dieser in der aktuellen Analyse zwar ausgewiesen, aber nicht gewertet. Der Nationale Vogelindex, der Artenvielfalt und Landschaftsqualität misst, wurde zuletzt 2016 aktualisiert. Der damals gemessene Wert von 70,3 war weit entfernt vom Zielwert 100. Als Ursachen gelten vor allem die intensive Landwirtschaft, die Zersiedelung, die Versiegelung von Flächen und die Belastung von Gewässern.

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