28.12.2016 — Timm Haase. Quelle: Verlag Dashöfer GmbH.
Ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, wird gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG berücksichtigt, wenn es noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet hat und für einen Beruf ausgebildet wird. Nach Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung oder eines Erststudiums wird ein Kind in den Fällen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG nur berücksichtigt, wenn es keiner Erwerbstätigkeit nachgeht (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG). Eine Erwerbstätigkeit mit bis zu 20 Stunden regelmäßiger wöchentlicher Arbeitszeit, ein Ausbildungsdienstverhältnis oder ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis i.S. der §§ 8 und 8a des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch sind unschädlich (§ 32 Abs. 4 Satz 3 EStG).
Streitig war der Kindergeldanspruch für die Tochter der Klägerin für die Zeit von Juni 2013 bis September 2014. Die im Juli 1990 geborene Tochter wurde nach ihrem Realschulabschluss in der Zeit vom 1. Oktober 2007 bis 30. September 2010 zur Physiotherapeutin ausgebildet. Bereits im Mai 2010 hatte die Tochter eine Zusage zum Besuch einer Fachoberschule, Fachrichtung Sozialwesen, die sie von August 2010 bis Juni 2011 besuchte und mit dem Zeugnis der Fachhochschulreife abschloss. Im Juli 2011 erhielt sie die Zulassung zu einer Hochschule zum zulassungsbeschränkten Studiengang "Physiotherapie Dual" für das Wintersemester 2011/2012 und wurde dort im September 2011 immatrikuliert. Die Hochschule führte ab Wintersemester 2010/2011 einen neu strukturierten Studiengang "Bachelor of Science Physiotherapie" ein.
Studierende, die - wie die Tochter der Klägerin - bereits vor Aufnahme des Studiengangs die Ausbildung als Physiotherapeut erfolgreich abgeschlossen hatten, erhielten diese angerechnet. Sie hatten daher in den ersten sechs Semestern nur jeweils ein Modul zu belegen. Im Übrigen hatten sie frei. Der Studiengang war in den ersten sechs Semestern nach seiner Konzeption ein dualer und kein berufsbegleitender, wurde jedoch für die Studieninteressenten mit bereits abgeschlossener Berufsausbildung geöffnet und daher für diese faktisch in den ersten sechs Semestern berufsbegleitend. Die Tochter arbeitete neben ihrem Studium im Streitzeitraum 30 Stunden pro Woche als angestellte Physiotherapeutin.
Die Familienkasse lehnte das Kindergeld u.a. für den Streitzeitraum ab. Einspruch und Klage blieben erfolglos. Das Finanzgericht führte nach teilweise zurückgenommener Klage für den noch verbliebenen streitigen Zeitraum zur Begründung aus, dass das Studium zwar eine (mehraktige) Erstausbildung darstelle, es sich aber aufgrund des zeitlichen Umfangs der Ausbildung (5 Semesterwochenstunden) jedenfalls in Zusammenschau mit ihrer zeitlichen Verteilung (nur Wochenendblöcke) nicht um eine Ausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG handele.
Die BFH-Richter stellten fest, dass die Tochter sich entgegen der Auffassung des FG im Streitzeitraum in Berufsausbildung befand und ihre erstmalige Berufsausbildung noch nicht abgeschlossen hatte. In Berufsausbildung befindet sich, wer "sein Berufsziel" noch nicht erreicht hat, sich aber ernsthaft und nachhaltig darauf vorbereitet. Dieser Vorbereitung dienen alle Maßnahmen, bei denen Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen erworben werden, die als Grundlagen für die Ausübung des "angestrebten" Berufs geeignet sind. Die Ausbildungsmaßnahme braucht Zeit und Arbeitskraft des Kindes nicht überwiegend in Anspruch zu nehmen. Insoweit wird der Tatbestand der Berufsausbildung i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG auch nicht durch eine daneben ausgeübte Teilzeit- oder Vollzeiterwerbstätigkeit ausgeschlossen, wenn die Ausbildung ernsthaft und nachhaltig betrieben wird.
Im Streitfall war die Erlangung des akademischen Grads eines "Bachelor of Science Physiotherapie" das Ausbildungsziel. Das Studium vermittelte auch in den ersten sechs Semestern aufgrund der vorgeschriebenen Basismodule Kenntnisse und Fähigkeiten, die Grundlage für das angestrebte Ausbildungsziel waren.
Entgegen der Ansicht des FG scheitert die Annahme einer Berufsausbildung nicht an dem geringen Umfang von durchschnittlich 5 Semesterwochenstunden, die blockweise an einigen Wochenenden während des Semesters durchgeführt wurden. Das Tatbestandsmerkmal der Berufsausbildung enthält kein einschränkendes Erfordernis eines zeitlichen Mindestumfangs von Ausbildungsmaßnahmen. Entscheidend ist vielmehr, dass es sich um Ausbildungsmaßnahmen handelt, die als Grundlage für den angestrebten Beruf geeignet sind. Daher können die konkreten beruflichen Pläne eines Kindes die Würdigung von Tätigkeiten beeinflussen, deren Ausbildungscharakter u. U. zweifelhaft ist.
Die Grundsätze, die der BFH für die Anerkennung eines Sprachschulunterrichts im Rahmen eines Au-Pair-Aufenthalts als Berufsausbildung aufgestellt hat, finden im Hinblick auf eine im Inland absolvierte Schul- oder Universitätsausbildung keine Anwendung, so die BFH-Richter.
Quelle:
BFH-Urteil v. 8.9.2016, Az. III R 27/15, veröffentlicht am 21.12.2016
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