02.03.2016 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans-Böckler-Stiftung.
Die nominalen Erhöhungen fielen mit durchschnittlich 4,6 Prozent stärker aus als 2014 und waren deutlich kräftiger als in den krisengeprägten Jahren zuvor. Da gleichzeitig die Inflation sehr niedrig war, legten die Mindestlöhne in den meisten EU-Ländern auch real deutlich zu. Das zeigt der neue Mindestlohnbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Der deutsche Mindestlohn liegt mit 8,50 Euro pro Stunde unter den Lohngrenzen in den übrigen westeuropäischen Staaten, die allesamt klar über 9 Euro Stundenlohn vorsehen, in Luxemburg sogar 11,12 Euro. Gemessen am mittleren nationalen Verdienst rangiert der deutsche Mindestlohn lediglich im internationalen Mittelfeld.
Im Vergleich zu den Jahren bis 2012, in denen die strenge Sparpolitik in zahlreichen EU-Staaten auch die Mindestlohnentwicklung ausbremste, habe „sich die Rückkehr zu einer dynamischeren Entwicklung bei den Mindestlöhnen, die bereits in den Jahren 2013 und 2014 begonnen hatte, auch im Jahr 2015 weiter fortgesetzt“, schreibt WSI-Tarifexperte Dr. Thorsten Schulten im Mindestlohnbericht, der in der neuen Ausgabe der WSI-Mitteilungen erscheint.
Das betrifft nach Analyse des Forschers die nominale wie die preisbereinigte Erhöhung. Nominal legten die Mindestlöhne 2015 im EU-Durchschnitt um 4,6 Prozent zu gegenüber 3,7 Prozent 2014. Dabei gab es weiterhin erhebliche Unterschiede. In West- und Südeuropa reichten die nominalen Anhebungen von 0,6 Prozent in Frankreich bis zu 4,9 Prozent in Portugal und 5,8 Prozent in Irland. In Osteuropa stiegen die Mindestlöhne fast überall um nominal mindestens drei Prozent, in Polen, Ungarn und Tschechien um mehr als gut fünf bis knapp sieben, in Litauen und Bulgarien sogar um rund 17 Prozent. Fünf EU-Länder, darunter Deutschland, erhöhten die Untergrenze 2015 oder Anfang 2016 nicht.
In insgesamt 18 Ländern lag die Mindestlohnentwicklung über der – niedrigen und in einzelnen Fällen sogar negativen – Inflationsrate, weshalb der Mindestlohn etwa auch in Griechenland real stieg, obwohl es dort keine nominale Erhöhung gab.
In den westeuropäischen Ländern betragen die niedrigsten erlaubten Brutto-Stundenlöhne nun zwischen 8,50 Euro in Deutschland und 11,12 Euro brutto in Luxemburg (Übersicht in Abbildung 1 im Mindestlohnbericht; Link unten). In Frankreich liegt die Untergrenze bei 9,67 Euro, in den Niederlanden bei 9,36 Euro, in Irland bei 9,15 und in Belgien bei 9,10 Euro. In Großbritannien müssen umgerechnet mindestens 9,23 Euro gezahlt werden. Zusätzlich zu einer Erhöhung in Landeswährung ist dieser Euro-Wert auch dadurch beeinflusst, dass das Britische Pfund seine langjährige Schwäche gegenüber dem Euro zum Teil wettgemacht hat.
Die südeuropäischen EU-Staaten haben Lohnuntergrenzen zwischen 3,19 Euro in Portugal und 4,20 Euro auf Malta. Etwas darüber liegt mit 4,57 Euro Slowenien. In den meisten anderen mittel- und osteuropäischen Staaten sind die Mindestlöhne noch deutlich niedriger. Allerdings haben mehrere davon weiter aufgeholt. So müssen etwa in Polen jetzt mindestens 2,55 Euro pro Stunde bezahlt werden. Zudem spiegeln die Niveauunterschiede zum Teil auch unterschiedliche Lebenshaltungskosten wider. Legt man Kaufkraftstandards (KKS) zugrunde, reduziert sich das Verhältnis zwischen dem niedrigsten und dem höchsten gesetzlichen Mindestlohn in der EU von 1:9 auf etwa 1:4 (siehe Abbildung 2 im Bericht).
Der deutsche Mindestlohn bildet nach Schultens Analyse bei der absoluten Höhe „mit einigem Abstand das Schlusslicht der westeuropäischen Spitzengruppe“. Schaut man auf das relative Niveau, rangiert Deutschland lediglich im internationalen Mittelfeld: Gemessen am jeweiligen Medianlohn, den Vollzeitbeschäftigte verdienen, hätte die deutsche Lohnuntergrenze im Jahr 2014 – dem letzten, für das derzeit international vergleichbare Daten vorliegen – 48 Prozent betragen. Beim Medianlohn handelt es sich um denjenigen Lohn, bei dem die Hälfte aller Beschäftigten mehr und die andere Hälfte weniger verdient. Ähnlich ist das Niveau in zahlreichen Ländern innerhalb und außerhalb Europas (siehe auch Tabelle 1 im Bericht). Nach verbreiteter wissenschaftlicher Klassifikation gelten Löhne unterhalb von 50 Prozent des Medians als „Armutslohn“. Deutlich höher, nämlich über 60 Prozent des Mittelwerts, liegen die Mindestlöhne unter anderem in der Türkei, Frankreich und Slowenien. Deutlich niedriger sind sie unter anderem in Japan, den USA oder Tschechien. Setzt man die Lohnuntergrenze ins Verhältnis zu den nationalen Lebenshaltungshaltungskosten, profitieren deutsche Mindestlohnbezieher vom relativ günstigen Preisniveau in der Bundesrepublik.
Außerhalb der EU verfügen nach Daten der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) rund 80 weitere Staaten über eine allgemeine Untergrenze für Löhne. Exemplarisch betrachtet das WSI die Mindestlöhne in 15 Ländern. Sie reichen von umgerechnet 34 Cent in der Ukraine und 1,08 Euro in Brasilien über 2,49 Euro in der Türkei, 5,94 Euro in Japan, 6,53 Euro in den USA bis zu 9,26 Euro in Neuseeland und 11,70 Euro in Australien. Insbesondere in den USA gibt es neben dem nationalen Mindestlohn aber weitere Untergrenzen, die auf der Ebene einzelner Bundesstaaten bindend sind. Der höchste regionale Mindestlohn gilt im District der Hauptstadt Washington (umgerechnet 9,46 Euro). Auch für Kalifornien sowie Massachusetts (9,01 Euro) konstatiert WSI-Experte Schulten „ein mit Westeuropa vergleichbares Niveau“.
Auch wenn die Mindestlohnentwicklung in vielen EU-Ländern die von der akuten Wirtschaftskrise und der Austerität im Euroraum verursachte mehrjährige Flaute überwunden habe, sieht Tarifexperte Schulten wichtige ökonomische und soziale Argumente für weitere Erhöhungen. Schließlich sei die sehr niedrige Inflationsrate ein ernsthaftes Signal wirtschaftlicher Fragilität: „Soll die Mindestlohnentwicklung tatsächlich dazu beitragen, die disinflationäre Entwicklung in Europa zu stoppen und der Gefahr einer Deflationskrise entgegenzuwirken, wären noch einmal deutlich höhere Lohnzuwächse nötig“, schreibt der Forscher. Dieses Argument werde in Japan und den USA deutlich offener und intensiver diskutiert als in Europa. Immerhin wachse in vielen EU-Ländern das Bewusstsein dafür, dass die nationalen Lohnuntergrenzen meist so niedrig angesetzt seien, dass sie auch Vollzeitbeschäftigten kein existenzsicherndes Einkommen garantieren. Eine europaweite Koordinierung der Mindestlohnpolitik mit dem Ziel, „Armutslöhne“ zu verhindern, könne den dynamischeren Trend bei der Mindestlohnentwicklung unterstützen, so Schulten. „Dabei wird die Aufmerksamkeit nicht zuletzt auf Deutschland liegen, wo im Laufe des Jahres 2016 erstmals über eine Anpassung des Mindestlohns entschieden wird.“
Weitere Informationen:
Thorsten Schulten in WSI-Mitteilungen 2/2016: WSI-Mindestlohnbericht 2016: anhaltende Entwicklungsdynamik in Europa (pdf) »
Aktuelle Zwischenbilanz zum Mindestlohn in Deutschland (pdf) »
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