11.12.2017 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e.V. (DIW Berlin).
Berücksichtigt man auch Erwerbstätige ohne Anspruch auf den Mindestlohn, wie Selbständige, verdienten im Jahr 2016 insgesamt etwa 4,4 Millionen Menschen in Deutschland weniger als 8,50 Euro brutto pro Stunde. Handlungsbedarf besteht vor allem bei den Kontroll- und Sanktionsmechanismen zum Mindestlohn sowie bei der Aufzeichnung der Arbeitszeiten.
Eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und der Universität Potsdam zeigt, dass der Mindestlohn zwar zu einer starken Steigerung niedriger Löhne geführt hat, aber dass längst nicht alle, die einen Anspruch darauf haben, ihn auch bekommen.
Basierend auf Angaben der Beschäftigten zu ihren monatlichen Gehältern und Arbeitsstunden im Rahmen der Langzeitstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) haben die StudienautorInnen ausgerechnet, dass im Jahr 2016 1,8 Millionen Personen, die anspruchsberechtigt waren, unter 8,50 Euro brutto pro Stunde verdienten, dem damaligen Niveau des Mindestlohns, wenn man ihre vertragliche Arbeitszeit zugrunde legt. Das sind eine Million weniger als im Jahr 2014, vor der Einführung des Mindestlohns, entspricht aber immer noch sieben Prozent aller anspruchsberechtigten ArbeitnehmerInnen. Diese Schätzung liegt deutlich über den Zahlen aus der amtlichen Statistik, die auf Angaben der ArbeitgeberInnen basiert (rund 1,1 Millionen für das Jahr 2016).
Wird der tatsächliche Stundenlohn der ArbeitnehmerInnen betrachtet, also auf Basis der tatsächlichen statt der vertraglichen Arbeitszeit gerechnet, steigt die Zahl derjenigen, die weniger als den Mindestlohn bekommen, laut SOEP-Daten von 1,8 auf 2,6 Millionen Personen an für das Jahr 2016. Allerdings sagt diese Zahl nicht automatisch etwas darüber aus, wie viele Beschäftigte unberechtigterweise weniger als den Mindestlohn verdienen, da es Beschäftigte gibt, die freiwillig unbezahlte Überstunden leisten – ein Phänomen, das entlang der gesamten Lohnskala eine Rolle spielt.
Viele Erwerbstätige fallen nicht unter die gesetzlichen Mindestlohnregeln, insbesondere Selbständige und Auszubildende wie auch Beschäftigte in den Branchen, in denen längere Übergangsfristen verabredet wurden. Rechnet man diese dazu, so verdienten im Jahr 2016 auf Basis ihrer vertraglichen Arbeitszeit insgesamt 4,4 Millionen, auf Basis ihre tatsächlichen Arbeitszeit sogar 6,7 Millionen Erwerbstätige unter 8,50 Euro pro Stunde und belegen die Existenz eines großen Niedrigeinkommensbereichs.
„Offensichtlich – und keineswegs unerwartet –wird das Mindestlohngesetz nicht in jedem Betrieb eins zu eins umgesetzt“, kommentiert Studienautorin Alexandra Fedorets, „Ergebnisse der Zollkontrollen und zahlreiche Medienberichte weisen auf Umgehungsstrategien durch intransparente oder inoffizielle Arbeitszeitvereinbarungen hin.“
In einer separaten, vom SOEP in Auftrag gegebenen Umfrage, haben im August/September 2017 rund vier Prozent der Befragten angegeben, selbst von möglichen Umgehungsmaßnahmen des Mindestlohns seitens ihres Arbeitsgebers betroffen zu sein. Weitere 17 Prozent gaben an, jemanden in ihrem persönlichen Umfeld zu kennen, auf den das zutrifft.
„Auffällig ist, dass einige Gruppen von Beschäftigten, die unter dem gesetzlichen Mindestlohnniveau entgolten werden, besonders betroffen sind: Das trifft auf Mini-Jobber, Beschäftigte in kleinen Firmen und Ausländerinnen und Ausländer zu. Auch sind Frauen stärker betroffen als Männer und Beschäftigte im Osten stärker als im Westen“, ergänzt Marco Caliendo von der Universität Potsdam, Mit-Autor der Studie. So verdienen, auf Basis ihrer tatsächlichen Arbeitszeit, 13 Prozent aller anspruchsberechtigter Frauen weniger, als ihnen zusteht – doppelt so viele, wie das bei Männern der Fall ist (sechs Prozent). Bei den geringfügig Beschäftigten werden 43 Prozent zu gering entlohnt, in Ostdeutschland trifft das auf 15 Prozent der anspruchsberechtigten Beschäftigten zu (Westdeutschland: neun Prozent).
Auch wenn die Umsetzung des Mindestlohns bei einem Teil der Anspruchsberechtigten noch nicht erfolgte, hat seine Einführung im Jahr 2015 zu starken Lohnzuwächsen im unteren Lohnsegment geführt. Im unteren Lohndezil, bei den zehn Prozent der Beschäftigten also, die am wenigsten verdienen, sind die Löhne zwischen 2014 und 2016 um 15 Prozent gestiegen. In den Jahren vor 2014 lagen die zweijährigen Lohnwachstumsraten für diese Beschäftigte bei rund zwei Prozent.
„Die Einführung des Mindestlohns hat insofern eins ihrer Ziele erreicht, als das sie den niedrigen Löhnen einen starken Schub gegeben hat“, so Studienautorin Fedorets. „Jetzt muss alles daran gesetzt werden, dass der Mindestlohn tatsächlich alle erreicht, denen er laut Gesetz auch zusteht“.
So sehen die StudienautorInnen politischen Handlungsbedarf sowie einen erheblichen Nachbesserungsbedarf bei der Dokumentation und bei den Kontroll- und Sanktionsmechanismen – entgegen der Forderungen von Arbeitgeberverbänden, die umgekehrt für eine Lockerung der Dokumentationspflichten und Kontrollen plädieren. Im Moment ist es so, dass Zollkontrollen wegen Kapazitätsmangel nicht flächendeckend, sondern risikooptimiert stattfinden, also dort wo systematische Verstöße erwartet werden. Eine striktere Aufzeichnungspflicht der Arbeitszeiten würde womöglich auch für die Effizienz der Kontrollen erhöhen.
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