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Mindestlohn: Keine negativen Arbeitsmarkteffekte, Verbesserungen bei Durchsetzung und Kontrolle nötig

16.09.2015  — Online-Redaktion Verlag Dashöfer.  Quelle: Hans-Böckler-Stiftung.

Zwischenbilanz zu Umsetzung und Wirkung: Unter dem Strich hat der Mindestlohn in Deutschland bislang keine negativen Arbeitsmarkteffekte gebracht.

Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist spürbar gestiegen, und zwar gerade in traditionellen Niedriglohnbranchen. Zurückgegangen ist lediglich die Zahl oft sehr niedrig bezahlter und schlecht abgesicherter Minijobs. Zu diesem Ergebnis kommen Dr. Claudia Weinkopf und Dr. Thorsten Schulten. Die Mindestlohnexpertin vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen und der Forscher des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung sehen trotzdem noch Nachbesserungsbedarf: Kontrolle und Durchsetzbarkeit des Mindestlohns sollten gestärkt werden, empfehlen die Wissenschaftler. Nicht nur im Interesse der Arbeitnehmer: „Unternehmen schließen ihren Frieden mit dem Mindestlohn, wenn sie sich darauf verlassen können, dass sich auch ihre Konkurrenz daran hält“, schreiben Schulten und Weinkopf in ihrer Analyse, die heute als Teil eines neuen Mindest­lohn­buchs in Berlin vorgestellt wird.

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Im Gegensatz zur internationalen Forschung waren sich viele deutsche Wirtschaftswissenschaftler weitgehend einig – der gesetzliche Mindestlohn werde Beschäftigung kosten, je nach Modellrechnung bis zu 1,5 Millionen Jobs. Doch die Analyse von Schulten und Weinkopf, die auch wissenschaftliches Mitglied in der Mindestlohn­kommission der Bundesregierung ist, zeigt: Die Unkenrufe haben sich nicht bewahrheitet. Die Zahl der sozial­versicherungspflichtigen Stellen hat seit Jahresbeginn weiter zugenommen. Die kräftigsten Zuwächse verzeichnen Branchen, die besonders stark vom Mindestlohn betroffen sind.

Laut Schulten und Weinkopf, die für ihre Studie Daten der Bundesagentur für Arbeit (BA) und des Statistischen Bundesamts ausgewertet haben, ist die Zahl der Arbeitslosen zwischen Dezember 2014 und Juni 2015 saisonbereinigt um 55.000 oder 2 Prozent gesunken. In Ostdeutschland – wo anteilig mehr Beschäftigte vom Mindestlohn profitiert haben dürften – war der Rückgang mit 3,4 Prozent mehr als doppelt so hoch wie im Westen. In den ersten vier Monaten des Jahres sind deutschlandweit 216.000 neue sozial­versicherungs­pflichtige Jobs entstanden, im Vergleich zum Vorjahr sind etwa 500.000 hinzugekommen.

Mehr sozialversicherungspflichtige Jobs insbesondere in Niedriglohnbranchen

Den prozentual größten Zuwachs weist mit dem Gastgewerbe eine „klassische Niedriglohnbranche“ auf. Auch bei der Leiharbeit, den „sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen“, zu denen beispielsweise Wachdienste, Gebäudereinigung und Callcenter gehören, im Sozialwesen und im Bereich Verkehr und Lagerei hat die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung überdurchschnittlich zugelegt, obwohl der Mindestlohn vielen Arbeitnehmern in diesen Branchen Gehaltssteigerungen beschert haben dürfte. In den einzigen Wirtschafts­zweigen mit Arbeitsplatzverlusten – Finanzdienstleistungen, öffentliche Verwaltung und Energiewirtschaft – spielen Niedriglöhne dagegen kaum eine Rolle. „Bei der Entwicklung sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse lassen sich demnach bislang keine negativen Effekte des Mindestlohns nachweisen“, urteilen die Arbeitsmarktexperten.

Ein anderes Bild ergibt sich bei den Minijobs: Laut BA hat die Zahl der geringfügigen Beschäftigungs­verhält­nisse seit Dezember 2014 um 206.000 abgenommen, die Minijob-Zentrale weist ein Minus von 190.000 im ersten Quartal 2015 aus. Allerdings sei dieser Rückgang nicht einfach mit Arbeitsplatzverlusten gleichzusetzen, betonen Schulten und Weinkopf. Es sei durchaus möglich, dass ein erheblicher Teil der ehemaligen Minijobs in reguläre Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt wurde. Dafür spreche die deutliche Zunahme der sozial­versicherungspflichtigen Stellen in Branchen wie dem Gastgewerbe, dem Handel oder den „sonstigen Dienstleistungen“. Allein in diesen drei Bereichen, in denen traditionell Minijobs weit verbreitet sind, entstanden zwischen April 2014 und April 2015 rund 170.000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige Stellen.

„In begrenztem Maße kann sogar davon ausgegangen werden, dass mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns ein zusätzlicher Kaufkraftgewinn entstanden ist, der die Inlandsnachfrage gestärkt und damit die Entstehung neuer Beschäftigung gefördert hat“, schreiben Weinkopf und Schulten über die gesamt­wirtschaft­lichen Beschäftigungswirkungen der neuen Lohnuntergrenze. Spürbare Kaufkraftzuwächse hat unlängst die Bundesbank in ihrem Monatsbericht dokumentiert: Danach sind im ersten Quartal 2015 die Stundenverdienste von un- und angelernten Arbeitnehmern deutlich überdurchschnittlich angestiegen. Besonders begünstigt waren Beschäftigte in Ostdeutschland.

Preiseffekt gesamtwirtschaftlich nicht spürbar

Während die prophezeiten Jobverluste mithin nicht nachweisbar sind, halten die Autoren einen Zusammen­hang zwischen der Preisentwicklung in einigen wenigen Branchen und dem Mindestlohn für plausibel. Dass landwirtschaftliche Produkte wie Obst und Gemüse um bis zu 11,5 Prozent, die „Personenbeförderung im Straßenverkehr“ um 10,1 Prozent und Zeitungen und Zeitschriften um 4,2 Prozent teurer geworden sind, könnte demnach zumindest teilweise der neuen Lohnuntergrenze geschuldet sein. Allerdings vermuten Schulten und Weinkopf in der Landwirtschaft und bei der Zeitungszustellung daneben auch nennenswerte „Mitnahmeeffekte“ – schließlich gelten in beiden Branchen gesonderte Mindestlöhne, die noch deutlich unter 8,50 Euro liegen. Zudem seien die isolierten Preissteigerungen gesamtwirtschaftlich nicht spürbar: „Der durchschnittliche Anstieg der Verbraucherpreise war im Gegenteil mit 0,4 Prozent äußerst gering, was vor allem an den immer noch rückläufigen Energiepreisen liegt.“

Stringente Arbeitszeitdokumentation und Verbandsklagerecht

Durchaus noch Verbesserungsbedarf sehen die Wissenschaftler bei der praktischen Umsetzung des Mindestlohns. So gehe aus dem Gesetz nicht eindeutig hervor, welche Vergütungsbestandteile bei der Berechnung von Stundenlöhnen berücksichtigt werden dürfen. Zahlreiche Anrufe bei den Hotlines des Bundesarbeitsministeriums und des Deutschen Gewerkschaftsbundes belegten, dass dies zu Unsicherheit bei Betrieben und Beschäftigten geführt hat.

Die Kritik von Arbeitgeberverbänden und Unionsparteien an der Verpflichtung zur Dokumentation von Arbeitszeiten halten Schulten und Weinkopf dagegen für unberechtigt. Zum einen sei die Aufzeichnung von Arbeitszeiten in vielen Bereichen ohnehin schon immer üblich gewesen und denkbar unaufwändig. Zum anderen seien ohne entsprechende Dokumentationen „wirksame Kontrollen der Mindestlohneinhaltung schlichtweg unmöglich“. Darauf, betonen die Forscher, habe auch die Finanzkontrolle Schwarzarbeit als zuständige Kontrollbehörde bereits mehrfach hingewiesen.

Die Kontrolleure des Zolls müssten zahlenmäßig möglichst rasch aufgestockt werden, empfehlen die beiden Wissenschaftler. Zudem sollten Beschäftigte dabei unterstützt werden, ihre Mindestlohnansprüche gegenüber unwilligen Arbeitgebern durchzusetzen. „Die Last der Klage darf nicht alleine bei den einzelnen Beschäftigten liegen.“ So sei es sinnvoll, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden ein Verbandsklagerecht einzuräumen, um wirksam gegen Mindestlohnverstöße vorzugehen.


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