11.10.2024 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans Böckler Stiftung.
Trotzdem kann ein Teil der infizierten Beschäftigten nicht arbeiten, und das in einer Situation, in der Fehlzeiten unter Arbeitnehmenden ungewöhnlich hoch sind, wie etliche Krankenkassen vermelden. Das wird mit Sorge beobachtet und von einzelnen Ökonom*innen und Arbeitgebervertreter*innen auch schon als Problem für die Wirtschaftsleistung in Deutschland diskutiert. Was sind die Gründe für vergleichsweise hohe Krankenstände? Neben mehr schwereren Atemwegserkrankungen sind belastende Arbeitsbedingungen, Personalmangel, zu wenig betriebliche Prävention, Probleme in der sozialen Infrastruktur, etwa bei der Kinderbetreuung, sowie mehr ältere Beschäftigte wichtige Faktoren, ergibt eine neue Analyse des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Hinzu kommt, dass Krankmeldungen neuerdings systematischer erfasst werden, so dass die Statistik die tatsächlichen Krankenstände schlicht realistischer abbildet als früher.
„In manchen Medien wird angesichts höherer Fehlzeiten suggeriert, dass Beschäftigte bei Erkrankungen schneller zu Hause bleiben oder gar krankfeiern. Dahinter, so der Verdacht, stehe geringere Leistungsbereitschaft und dass man in Zeiten von Fachkräftemangel weniger negative Konsequenzen zu befürchten habe. Es mag Einzelfälle geben, aber als grundsätzliche Erklärungsansätze sind solche Verkürzungen gefährlich, weil sie den Blick auf die wirklich relevanten Ursachen verstellen“, sagt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI. „Nur wenn man die strukturellen betrieblichen und sozialen Ursachen kennt und ernst nimmt, kann man wirksam etwas gegen hohe Krankenstände tun.“, erklärt Dr. Elke Ahlers, WSI-Expertin für Gesundheit am Arbeitsplatz und Autorin der Analyse. Prävention und insbesondere der konsequente Einsatz von Gefährdungsbeurteilungen – und wirksame Schlussfolgerungen daraus – seien zentral.
Seit den Corona-Jahren befinden sich die Krankenstände in Deutschland im Aufwärtstrend und liegen nun auf einem im historischen Vergleich hohen Niveau. Am häufigsten wurden zuletzt bei Beschäftigten Atemwegserkrankungen (17,5 Prozent) diagnostiziert, gefolgt von Muskel-Skelett-Erkrankungen (17,4 Prozent) und psychischen Erkrankungen (10,3 Prozent). Stark betroffen von hohen Krankenständen sind soziale Einrichtungen, insbesondere Alten- und Pflegeheime, also Branchen, die für sehr hohe Arbeitsbelastungen und Fachkräftemangel bekannt sind.
Generell dürften Fachkräfteengpässe auf zwei Ebenen eine Rolle spielen, analysiert Ahlers. Einmal sei zumindest in manchen Branchen die Angst, den Job zu verlieren nicht mehr so verbreitet wie etwa in den 2000er und Anfang der 2010er Jahre. Damals prägten Forschende den Begriff „Präsentismus“ für Beschäftigte, die regelmäßig krank zur Arbeit gingen, statt sich auszukurieren. Stärker dürfte sich aber auswirken, dass sich hektische und erschöpfende Arbeitsbedingungen nicht nur im Gesundheitssektor ausbreiten. „Viele Beschäftigte leiden unter Personalengpässen, Fachkräftemangel, fehlenden Kinderbetreuungsplätzen und einer unsicheren wirtschaftlichen sowie politischen Lage“, umreißt WSI-Expertin Ahlers die Bandbreite der Belastungen. Daneben sei zunehmende Digitalisierung charakteristisch für die heutige Arbeitswelt, die zumindest übergangsweise zusätzlich stressen könne.
Ahlers zitiert beispielshaft Untersuchungen der Techniker Krankenkasse, wonach vor allem der Umfang und die Komplexität der zu bewältigenden Aufgaben, die hohe Informationsmenge und der Umgang mit permanenten Veränderungen ausschlaggebend für hohe Belastungen seien. Die DAK stellt zudem heraus, dass 45 Prozent der Beschäftigten regelmäßig von starkem oder sehr starkem Personalmangel im eigenen Arbeitsbereich betroffen seien. Tatsächlich sind in Branchen mit hohem Fachkräftemangel die Krankenstände überdurchschnittlich hoch und Mehrfachkrankschreibungen auffällig. Doch eben diese Beschäftigten gäben auch häufiger an, trotz Krankheit arbeiten zu gehen. Und sie müssen zusätzliche Aufgaben übernehmen, es kommt zu Arbeitsverdichtung, Multitasking und Mehrarbeit. Pausen werden eingeschränkt und der Feierabend ist nicht mehr sicher. Viele Beschäftigte könnten abends schlechter von der Arbeit abschalten, analysiert Ahlers. „Das alles wirkt sich auf die Arbeitszufriedenheit, auf das Betriebsklima und letztendlich auf die Gesundheit aus.“
Für Eltern kleinerer Kinder werden solche Arbeitsbelastungen noch durch den flächendeckenden Mangel an Kita-Plätzen sowie nicht selten vorkommende Verkürzungen oder Ausfälle der Betreuung verschärft. Laut einer Befragung des WSI geben 67 Prozent der betroffenen Befragten an, dass sie die Ausfälle bei der Kinderbetreuung bzw. die zeitliche Verkürzung als belastend empfinden.
Gleichzeitig haben der demografische Wandel und auch die eingeschränkte Möglichkeit eines früheren Renteneintritts die Erwerbsbeteiligung Älterer in Deutschland steigen lassen: Die Erwerbstätigenquote Älterer (55 bis 64 Jahre) ist in Deutschland laut der Industrieländerorganisation OECD von 1995 bis 2022 um 35,9 Pro-zentpunkte gestiegen. Im Jahr 2022 lag sie bei 73,3 Prozent und damit deutlich über dem OECD-Durchschnitt von 62,9 Prozent.
Diese von vielen Fachleuten als positiv eingeordnete Entwicklung hat gewissermaßen als Kehrseite, auch Auswirkungen auf den Krankenstand, stellt Ahlers fest. Krankenkassendaten belegen, dass krankheitsbedingte Fehlzeiten mit steigendem Alter zunehmen. Liegt der Krankenstand der 30- bis 34-Jährigen noch bei 4,9 Prozent, so erhöht er sich bei den 55- bis 59-Jährigen auf über neun Prozent. Zwar sind ältere Beschäftigte nicht unbedingt öfter, aber bedingt durch andere Krankheitsbilder länger krank.
Als weiteren, oft übersehenen, Faktor nennt die WSI-Expertin das geänderte digitalisierte Verfahren bei der Erfassung und Weiterleitung von Krankmeldungen. War es bis 2022 den Beschäftigten überlassen, die Krankmeldungen nicht nur dem Arbeitgeber, sondern auch der Krankenkasse weiterzureichen, so geschieht dies nun digital. Die Krankenkassen erhalten damit automatisiert alle Krankmeldungen, was vorher nur bedingt der Fall war. Damit führe die Umstellung zu einer exakteren Erfassung der Krankheitsfälle und infolgedessen zu einer Korrektur einer jahrelangen Untererfassung, so Ahlers. „Die deutliche Erhöhung des Krankenstandes ist daher auch dieser Umstellung geschuldet, und das sollte fairerweise in der Debatte um hohe Fehlzeiten mitberücksichtigt werden.“
Statt sich über eine vermeintlich weniger leistungsbereite arbeitende Bevölkerung zu beklagen, müsse an den relevanten Ursachen der hohen Fehlzeiten angesetzt werden, betont die WSI-Gesundheitsexpertin. Wichtige Instrumente dafür seien zwar längst vorhanden, doch: „Das wird im Zuge des gesetzlichen Arbeits- und Gesundheitsschutzes und einer konsequenteren Umsetzung von Gefährdungsbeurteilungen seit langem gefordert, aber von den Unternehmen nur halbherzig umgesetzt“, schreibt Ahlers.
In eigenen Studien hat die Forscherin herausgearbeitet, dass vor allem ein wirkungsvoller Schutz vor psychischer Überlastung vielfach noch zu kurz kommt. Zwar steigt zumindest in Betrieben mit Betriebsrat die Quote der Betriebe kontinuierlich, die regelmäßig psychische Gefährdungsbeurteilungen durchführen, wie die WSI-Betriebsrätebefragung von 2021 zeigte. Vollständig umgesetzt wurden solche Verfahren aber bislang trotzdem nur in rund zwei Dritteln der Betriebe, zudem scheinen auf die Analyse nicht zwingend Taten zu folgen. Untersuchungen anderer Wissenschaftler*innen zeigen ähnliche Defizite auf. Personalverantwortliche seien dringend gefordert, den Beschäftigten gute und faire Arbeitsbedingungen zu bieten, um den hohen Fehlzeiten entgegenzuwirken, mahnt Ahlers. Einseitige Schuldzuweisungen brächten hingegen nur eines: Noch mehr Druck und Stress.
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