11.03.2015 — Online-Redaktion Verlag Dashöfer. Quelle: Hans Böckler Stiftung.
Dies zeigt die Jahresbilanz zur Streikentwicklung, die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung heute vorlegt.
Insgesamt registrierte das WSI im abgelaufenen Jahr 214 Tarifkonflikte mit Arbeitsniederlegungen. Damit liegt die Arbeitskampfhäufigkeit nahezu auf dem Niveau des Vorjahres (218). Da viele dieser Arbeitskämpfe sich auf einzelne Unternehmen beschränkten, sank jedoch zugleich das Arbeitskampfvolumen. Es lag mit 392.000 Ausfalltagen um gut 25 Prozent niedriger als im Vorjahr (551.000). Noch deutlicher ging die Zahl der Streikenden zurück. Insgesamt nahmen 2014 rund 345.000 Beschäftigte an Arbeitsniederlegungen teil, ein Rückgang um fast zwei Drittel gegenüber 2013. Die erheblichen Schwankungen in der Streikbeteiligung werden wesentlich von Rhythmus und Verlauf der Tarifrunden in der Metall- und Elektroindustrie bestimmt, erklärt WSI-Arbeitskampfexperte Dr. Heiner Dribbusch. 2014 standen in diesem Bereich keine Tarifverhandlungen an.
Im internationalen Vergleich des Arbeitskampfvolumens liegt Deutschland nach wie vor im unteren Bereich.
Noch deutlicher als im Vorjahr konzentrierte sich 2014 das Streikgeschehen auf den Dienstleistungssektor. Fast 90 Prozent aller Arbeitskämpfe und gut 97 Prozent aller Ausfalltage sind diesem Bereich zuzuordnen. Alleine die Gewerkschaft ver.di war in mehr als 160 von Arbeitsniederlegungen begleitete Tarifkonflikte involviert, von denen 16 bereits vor 2014 begonnen hatten. Außerhalb des Dienstleistungsbereichs gab es erneut besonders viele, häufig kleinere, Streiks in der von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) organisierten Getränke- und Lebensmittelindustrie.
Die umfangreichsten Flächenstreiks fanden in der Tarifrunde des Öffentlichen Dienstes von Bund und Gemeinden statt. An verschiedenen Warnstreikwellen, zu denen neben ver.di und der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) auch die zum Beamtenbund gehörende dbb tarifunion aufgerufen hatte, nahmen nach Gewerkschaftseinschätzung rund 300.000 Beschäftigte teil. Den prozentual höchsten Tarifabschluss nach einem Streik gab es, nachdem am 21. Februar 2014 das mit seiner niedrigen Bezahlung unzufriedene Sicherheitspersonal am Frankfurter Flughafen die Arbeit niedergelegt hatte. Über zwei Jahre verteilt wurde ein Einkommensplus von bis zu 26,5 Prozent vereinbart. Auch hier streikten Mitglieder von ver.di und dbb tarifunion gemeinsam.
Konfrontation statt Kooperation zwischen den Gewerkschaften kennzeichnete dagegen die Tarifauseinandersetzung bei der Deutschen Bahn, wo die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) bisher darauf bestand, getrennt von der wesentlich größeren Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) zu verhandeln. Neben dem Bahnkonflikt stand der Arbeitskampf bei der Lufthansa im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses. Von der Zahl der Streikenden und der Ausfalltage her fielen beide Arbeitskämpfe jedoch kaum ins Gewicht, so Arbeitskampfforscher Dribbusch. Auch streikten die Berufsgewerkschaften insgesamt im Jahr 2014 weder häufiger noch erfolgreicher als die Branchengewerkschaften. Unabhängig davon, ob ver.di, die EVG, die GDL, oder die Vereinigung Cockpit dazu aufriefen, erhielten die auf längere Sicht eher seltenen Arbeitskämpfe im Flug- und Bahnverkehr stets besondere Beachtung, beobachtet der WSI-Experte. Dabei gerate in der Öffentlichkeit häufig die Verantwortung der Arbeitgeberseite für den Konflikt aus dem Blick.
„Der seit Mitte der 2000er Jahre zu beobachtende Anstieg der Arbeitskämpfe gründet wesentlich in einer zunehmenden Zersplitterung der Tariflandschaft“, erklärt Dribbusch. Hinzu komme die Abkehr der Arbeitgeber von ehemals einheitlichen Tarifstrukturen. „Wie Tarifeinheit zerstört wird, demonstriert die Deutsche Post mit der Ausgliederung der Paketzustellung aus dem bestehenden Haustarifvertrag.“ Manche Arbeitgeber wollen nach Analyse des Wissenschaftlers erst gar keine Tarifbindung eingehen. Hierfür stehe stellvertretend das Amazon-Management. „Ein solches Verhalten kann keine Gewerkschaft hinnehmen. Der Grundsatzkonflikt zieht sich mittlerweile seit über einem Jahr hin und ein rasches Ende ist nicht abzusehen“, sagt Dribbusch.
Im internationalen Vergleich wird in Deutschland weiterhin relativ wenig gestreikt, zeigt das WSI auf Basis der aktuellsten verfügbaren Daten. Nach Schätzung des WSI fielen hierzulande zwischen 2005 und 2013 im Jahresdurchschnitt pro 1.000 Beschäftigte rechnerisch 16 Arbeitstage aus. In Frankreich kamen auf 1.000 Beschäftigte hingegen im Jahresmittel 139 Arbeitskampftage, in Dänemark 135 und in Irland 28 (siehe Grafik). Ein deutlich niedrigeres Streikvolumen findet sich in Österreich, Polen und in der Schweiz.
Beim internationalen Vergleich ist laut Dribbusch zu beachten, dass die Arbeitskampfstatistiken auf unterschiedlichen Erfassungsmethoden basieren. Die Zahlen für Frankreich beziehen sich allein auf die Privatwirtschaft, in Spanien sind die großen Generalstreiks der vergangenen Jahre nicht enthalten und in den USA werden Streiks beispielsweise erst ab 1.000 Beteiligten einbezogen. In Dänemark und Kanada ist das Arbeitskampfvolumen zudem stark durch Aussperrungen beeinflusst. Große Lücken hat die amtliche Statistik in Deutschland, die von der Bundesagentur für Arbeit erstellt wird. Auf Grund erheblicher Defizite in der Erhebung weist sie von 2005-2013 mit durchschnittlich vier Ausfalltagen lediglich ein Viertel des vom WSI ermittelten Streikvolumens aus.
Nach Einschätzung des WSI ist wahrscheinlich, dass sich der Rückgang des Streikvolumens 2015 nicht fortsetzen dürfte. Die Streikbeteiligung lag bereits Ende Februar auf Grund der umfangreichen Warnstreiks in der Metall- und Elektroindustrie deutlich über der des vergangenen Jahres. Der Fortgang der Konflikte bei Amazon, Bahn und Lufthansa bleibt abzuwarten. Im ersten Halbjahr steht zudem die parlamentarische Beratung des 2014 auch unter Gewerkschaften viel diskutierten Gesetzes zur Tarifeinheit an.
Anmerkung zur Methode
Die Arbeitskampfbilanz des WSI ist eine Schätzung auf Basis von Gewerkschaftsangaben, Pressemeldungen und eigenen Recherchen. Warnstreiks, insbesondere wenn sie lokal begrenzt sind, werden nicht von allen Gewerkschaften erfasst. Auch Streiks außerhalb des Tarifgeschehens, wie z. B. betriebliche Proteststreiks, werden nur in Ausnahmefällen bekannt, so dass die vom WSI ermittelte Zahl der Arbeitskämpfe eine Mindestzahl darstellt. Die Zahl der arbeitskampfbedingten Ausfalltage ist ein rechnerischer Wert, in den anteilig auch weniger als einen Tag dauernde Arbeitsniederlegungen einfließen. Analog zur amtlichen Statistik werden bei der Streikbeteiligung Beschäftigte, die an zeitlich getrennten Streiks oder Warnstreiks teilnehmen, gegebenenfalls mehrfach gezählt.
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